Zur Übersetzung
Sprachform
Molières „Tartuffe“ ist – zumindest in der uns
überlieferten Fassung – in Versen geschrieben, in paarweise
gereimten (sechshebigen) Alexandrinern.
Die Regeln für das klassische Drama waren in Frankreich damals
vielleicht strenger als überall sonst in Europa. Eine andere
Versform wäre, zumindest für ein ernstzunehmendes
Theaterstück, nicht zulässig gewesen. Molière hat
nicht immer mit Reim und Alexandrinern gearbeitet, für die
übliche Komödie war das auch gar nicht nötig, viele
seiner Stücke sind in Prosa geschrieben. Es zeigt, wie wichtig es
ihm war, mit dem „Tartuffe“ seriös wirken zu wollen
und somit wohl all seinen Kritikern schon vorab den Wind aus den Segeln
zu nehmen. Außerdem läßt sich die gehobene,
pathetische Sprache der pseudo-frommen Titelgestalt so noch
wirkungsvoller parodieren. Es ist allerdings nicht unbedingt gesagt,
daß auch die Erstfassung des „Tartuffe“ schon in
Reimen und Versen verfaßt war.
Im deutschen Sprachraum ist der Alexandriner eher nicht so heimisch.
Was in Französisch schwungvoll und flüssig klingt, wirkt im
Deutschen schnell holprig und steif. Der deutschen Sprachstruktur kommt
der fünfhebige Pentameter (in der Form, wie er auch von
Shakespeare gebraucht wurde) wesentlich besser entgegen.
Das stellt den Übersetzer vor einige Entscheidungen.
Die erste Frage: Soll beim Übersetzen dem Inhalt oder der Form der Vorzug gegeben werden?
Eine Versübersetzung in Paarreimen muß zwangsweise eine
Nachdichtung sein – es ist fast unmöglich, dieselben Worte,
die sich auf französisch reimen, auch auf deutsch zu reimen!
Deshalb müssen Sätze im einfachsten Fall neu strukturiert,
meistens aber außerdem auch noch neu formuliert oder sogar neu
gedacht werden, um als Ergebnis dieselbe Versform wie im Original zu
erzeugen.
Bei einer wörtlichen Übersetzung, die den Inhalt
möglichst unangetastet läßt, geht dafür der
Rhythmus des Originals weitgehend verloren.
Eins darf auch nicht vergessen werden: „Tartuffe“ ist ein
Theatertext – also nicht in erster Linie als
„Literatur“ geschrieben, sondern für die unmittelbare
Wirkung auf der Bühne verfaßt. Was zählt, ist der
direkte Kontakt zwischen Schauspieler und Text einerseits und dem
Publikum andererseits, im Hier und Jetzt.
Bei einem Theatertext steht also zusätzlich zu dem Problem Inhalt
versus Form noch die Frage nach der Wirkung im Raum. Das gilt in
besonderem Maße für die Komödie – hier
läßt sich die Wirkung nämlich unmittelbar an der
Reaktion des Publikums ablesen. Kurz gesagt – wenn die Zuschauer
lachen, hat die Pointe gewirkt. Sonst nicht.
Das Publikum zu Molières Zeit war gereimtes Verstheater gewohnt
und hat deshalb auf Texte in Versen viel direkter und spontaner
reagiert, als es ein heutiges Publikum tun würde. Heutzutage
erzeugen paarweise gereimte Alexandriner beim Zuschauer eher ein
Gefühl der Distanziertheit, der Steifheit – und das ist
natürlich das Gegenteil von dem, was Molière beabsichtigt
hat!
Es gibt kein Patentrezept.
Die bisherigen Übersetzungsversuche am „Tartuffe“
gehen in die Hunderte. Darunter Prosafassungen (Bierling 1752),
nicht-gereimte Alexandriner (Gustav Fabricius), nicht-gereimte
Pentameter im Shakespeare-Stil (die neue Reclam-Ausgabe von Monika
Fahrenbach), freies Versmaß mit wechselndem Reimschema (die alte
Reclam-Ausgabe von Reinhard Koester), diverse Versuche in paarweise
gereimten Alexandrinern (Arthur Luther, Hans Weigel, Simon Werle), und
und und...
Je exakter eine dieser Versionen sich der Originalform annähert,
umso mehr dichterische Freiheiten nimmt sie sich andererseits heraus
– die Illusion eines „klassisch wirkenden“ Textes
wird also mit inhaltlicher Fiktion erkauft!
Und gemeinsam ist all diesen Versuchen, daß kaum eine die
Frische, Frechheit und Spritzigkeit von Molières Original zu
vermitteln vermag – in den meisten Übersetzungen wirkt das
Stück eher wie ein bürgerliches Trauerspiel als eine
Komödie, die es aber in Wirklichkeit durchaus auch sprachlich ist!
Die Neuübersetzung
Christoph Prückner geht in seiner Übersetzung nun einen ganz
eigenen Weg – der vor den Augen von Literaturwissenschaftlern
vielleicht kaum Gnade finden würde, den ihm das Publikum
dafür aber hoffentlich umso mehr danken wird.
Die diversen Sprachformen werden in der Fassung für das
Theater-Center Forum selber thematisiert – es wird also
aufgezeigt, wie religiöser Fanatismus (oder auch jede andere Form
von Dogmatismus) auch mit verändertem Sprachgebrauch einhergeht.
Das Sprechen bestimmt das Bewußtsein, und kann so auch für
demagogische Zwecke instrumentalisiert werden.
Deshalb sind in unserer Textfassung sowohl Szenen in Prosa wie auch
Szenen in klassischen paarweise gereimten Alexandrinern, und ebenso
sämtliche Mischformen, anzutreffen.
Die Abfolge der unterschiedlichen Formen ist dabei nicht
willkürlich, sondern folgt einem klaren System, und ist
abhängig von Situation und Rolle.
Tartuffe, der selbsternannte Heilsbringer, spricht in gehobener Sprache
– also in Versen und Reimen. Die Familie dagegen in
Alltagssprache, also in Prosa. Je näher eine Figur sich innerlich
an Tartuffe anschließt (also besonders Orgon und Madame Pernelle,
seine Jünger), umso mehr neigen auch diese Figuren zur gebundenen
Sprache.
Auch Konflikte können so sichtbar gemacht und über die
sprachliche Ebene ausgetragen werden. Denn meistens muß bei einer
Konfrontation (einem Streitgespräch zum Beispiel) eine der beiden
Figuren sich dem Sprachgebrauch ihres Gegenübers anpassen. In
andern Fällen stehen stattdessen zwei Sprachebenen, zwei
Sprechrhythmen unversöhnt gegeneinander und verschärfen so
die Unvereinbarkeit der Positionen. Hin und wieder verwendet eine der
Figuren auch Sprachmuster eines anderen in parodistischer Weise, um
sich lustig zu machen.
Auf diese Weise werden die verschiedenen Bewußtseins- und
Inhaltsebenen des Stückes deutlich gegeneinander abgesetzt,
wodurch nicht nur das Tempo erhöht wird und die Pointen
stärker herausarbeitet werden können, sondern auch das
Verständnis wesentlich vereinfacht und zugleich vertieft wird.
Das rückt uns einerseits die Figuren näher, andererseits
macht diese Methode die Hohlheit der Phrasen, mit denen Tartuffe
operiert, auch für ein heutiges Publikum spürbar. Denn der
„Tartuffe“ ist auch, wenn man sich den Originaltext
ansieht, Sprachkritik. Das Entlarven hohler Sprechformen war sowieso
eines von Molières beliebtesten Stilmitteln in der Satire.