Zu den Hintergründen -

"Freiheit der Kunst" contra Zensur

Molières „Tartuffe“ ist ein Musterbeispiel dafür, die Entstehungsbedingungen eines literarischen Textes kritisch zu hinterfragen. Die Frage läßt sich stellen, inwieweit das Stück in seiner überlieferten Form überhaupt die Absichten des Autors widerspiegelt, und wieviel in seiner jetzigen Gestalt auf äußeren Druck zurückzuführen ist. 




Historische Hintergründe

Kurz zusammengefaßt:
die „Tartuffe“-Version, die uns (als einzige) bekannt ist, ist bereits die dritte Variante des Stücks. Die beiden vorangegangenen Versionen sind vernichtet worden.
Molière hat sein Stück nicht freiwillig mehrmals umgeschrieben, dies geschah aufgrund harter Zensurmaßnahmen. Sowohl die katholische Kirche wie auch mächtige religiöse Laienorganisationen (darunter vor allem die Gruppe der „Dévots“, die unter anderem von der Königinmutter unterstützt wurden) fühlten sich durch den „Tartuffe“ heftig angegriffen und lächerlich gemacht, und erwirkten ein Verbot. Sowohl die öffentliche Aufführung wie auch der private Besitz des Stückes wurden untersagt, Molière selbst mit Exkommunikation und sogar Scheiterhaufen bedroht (Vergleiche mit aktuellen Fällen wie etwa Salman Rushdie oder den Zeichnern der „Mohammed“-Karikaturen drängen sich auf). Auch dem König selbst (Louis XIV.), dessen Macht damals noch von der Unterstützung durch die Kirche abhängig war, waren die Hände gebunden, obwohl er ansonsten Molière gerne förderte.
Eine zweite, stark umgearbeitete Version wurde ebenfalls nicht zugelassen. Erst die dritte, extrem entschärfte, Variante durfte dann endlich (1669, 5 Jahre nach der Erstaufführung!) auf die Bühne und wurde zu einem phänomenalen Erfolg. Der Trick dabei – Molière baute nun auf die stärker werdende Konkurrenz zwischen den „Dévots“ und der offiziellen Kirche, und er fügte in der Schlußszene eine Huldigung an den König ein, die auch von der Kirche nicht ignoriert werden durfte (ein drittes Mal vom König das Verbot des Stückes zu fordern, hätte bedeutet, auch die Apotheose des Königs zu verbieten!).

Wie man sieht – die überlieferte Textfassung ist ein Konglomerat verschiedenster Einflüsse, in denen sich die Zeitgebundenheit des Stückes deutlich spiegelt, sowie der Versuch seines Autors, trotz heftiger, erwungener Kompromisse immer noch einen Rest seiner ursprünglichen Intentionen zu retten.


Die drei Versionen – „Ur-Tartuffe“ contra Zensurfassung

Da, wie schon gesagt, von den ersten beiden Versionen nichts mehr existiert (einige  Textbücher wurden sogar öffentlichkeitswirksam verbrannt), lassen sich über Inhalt und Form dieses „Ur-Tartuffe“ also nur, anhand diverser Überlieferungen und Hinweise, Vermutungen anstellen.

Die wichtigsten Unterschiede:
Die erste Version war die kürzeste – sie bestand nur aus 3 Akten. Welche, darüber streiten die Gelehrten seit Jahrhunderten.

Zum Stückschluß:
In der ersten Version siegt Tartuffe am Ende (so wie damals ja auch die Kirche selbst in Bezug auf das Stückverbot Siegerin blieb).
In der zweiten Variante kommt es zu einem Prozeß, im Laufe dessen die bürgerliche Familie den Heuchler entlarven kann.
In der dritten Version wird dem Bürgertum nicht mehr zugetraut, seine eigenen Probleme lösen zu können, hier ist es der König als gottgleicher Deus ex Machina, der alle Verwicklungen mit einem Schlage zum Guten wenden kann. Daß das dramaturgisch mehr als an den Haaren herbeigezogen wirkt, steht auf einem anderen Blatt.

Zur Gestalt des Tartuffe:
In der ersten Variante war Tartuffe noch ziemlich eindeutig als Priester gekennzeichnet. In den späteren Fassungen wurde er dann zu einem verarmten Adligen. Gleichzeitig wurde der Untertitel von „L’Hippocrite“ („Der Heuchler“) zu „L‘ Imposteur“ („Der Betrüger“) umgeschrieben.
Der Sinn dieser Änderungen: War Tartuffe in der Ur-Version noch deutlich als gewissenloser Vertreter der katholischen Kirche zu lesen, der seine eigenen moralischen Grundsätze nicht befolgt, so wurde in den späteren Fassungen die Kirche sozusagen aus dem Schußfeld genommen, nun war es nur noch die Partei der „Dévots“ und ähnlicher Laienbewegungen, die sich kritisiert fühlen konnte – und auch die nur bedingt, denn ganz am Schluß stellt sich ja heraus, daß Tartuffe nicht einmal ein Laienpriester, sondern nur ein ganz gewöhnlicher Verbrecher ist, der sich bloß als frommer Mann tarnt.

Aus diesem Grund wurde auch, spätestens in der dritten Version, der jetzige zweite Akt eingefügt (der ansonsten dramaturgisch sehr ungeschickt in das Ganze eingepaßt ist). Die Geschichte von Mariannes Verheiratung mit Tartuffe erfüllt einen doppelten Zweck – einerseits kann Molière durch das neue Thema „Zwangsheirat“ ein bißchen vom Hauptthema „religiöse Bigotterie“ ablenken – und zum zweiten ist dadurch Tartuffe noch vor seinem ersten Auftritt als heiratsfähiger Mann charakterisiert. Was bedeutet: er kann kein Priester sein!
Damit ist allerdings leider auch die Verführungsszene mit Elmire wesentlich entschärft – was in der Urfassung ein absoluter Tabubruch war (Verletzung des Zölibats und der sexuellen Enthaltsamkeit), wird in der neuen Version zu einem eher kleineren Skandal (Ehebruch) abgemildert.
(Evangelische Länder tun sich hier, beim Inszenieren des Stückes, natürlich etwas leichter als katholische, da in der evangelischen Kirche auch die Pfarrer heiraten können – in Norddeutschland etwa hat sich deshalb auch schon früh die Tradition herausgebildet, den Tartuffe nach wie vor als Geistlichen auftreten zu lassen.)

Der dritte große Unterschied
zwischen Urfassung und Zensurversion liegt wohl in der Gestalt des Cléante.
Es ist fraglich, ob die Figur in der Originalversion überhaupt schon aufgetreten ist. Sie erfüllt im Rahmen der Stückhandlung keinerlei dramaturgische Funktion, und ist auch charakterlich erstaunlich farblos. Im großen Ganzen erfüllt Cléante in etwa die Aufgabe eines Sprachrohrs – seine Monologe haben in erster Linie den Sinn, den Autor vor seinen Verfolgern und Kritikern zu schützen. Cléante erteilt dem Publikum Ratschläge, wie das Stück zu werten und zu rezipieren ist, er erklärt Gut und Böse, richtig und falsch, er teilt den Zuschauern mit, wie man zwischen echten Frommen und heuchlerischen Frömmlern zu unterscheiden hat – kurz: er schützt den Autor Molière davor, mißverstanden (oder vielleicht eher: nur zu richtig verstanden?) zu werden. Und verhindert damit gleichzeitig möglichst jeden kritischen Lacher. Ein ursprünglich als Komödie geplantes Stück wird durch die Mitwirkung dieser Figur teilweise unbeabsichtigt zum Trauerspiel. Würde die Figur wegfallen, würde sich nichts am Ablauf der Handlung ändern – um so mehr, als es Passagen in seinen Monologen gibt, bei denen bis jetzt nicht ganz klar ist, ob sie nicht eigentlich anderen Figuren zugeordnet werden müßten, oder umgekehrt.

Weitere kleine Änderungen
zeigen sich vor allem in vielen Strichen – fast alles, was zu derb, erotisch zu freizügig und vor allem in religiösem Sinn zu anstößig war, mußte gestrichen werden. Man kann nur vermuten, mit wieviel Pointen das Stück ursprünglich einmal ausgestattet gewesen sein mag – geblieben ist ein Bruchteil davon.



Spielfassung des Theater-Center Forum
Und genau auf diese Vermutung lassen wir uns für unsere Inszenierung ein.
Unsere neue Spielfassung unternimmt also den Versuch, soviel wie möglich von der Wirkung (nicht von der Form – das ist unmöglich) des „Ur-Tartuffe“ fürs Theater zu „rekonstruieren“.

Als Material dient natürlich in erster Linie der überlieferte Text selbst, der aber zum Teil mit neuem Kontext versehen, in andere Reihenfolge gebracht oder anderen Personen zugeteilt wird. „Angestückelte“ Passagen werden dramaturgisch sinnvoller über das Stück verteilt, moralisierende Zusätze in den meisten Fällen gestrichen. Nur wenige Überleitungen und Pointen wurden neu dazugedichtet, oft an Passagen, an denen erkennbar ist, daß hier die Zensur eingegriffen und Striche verlangt hat.

Ein paar Beispiele:
– das aufgesetzte Happy-End findet so nicht statt.
– Tartuffe ist, wie von Molière gewünscht, wieder als Priester lesbar (obwohl auch andere Deutungsmöglichkeiten offenbleiben).
– die Figur des Cléante tritt nicht auf, seine wichtigsten Dialogzeilen wurden auf andere Figuren aufgeteilt.
– die Figur der Madame Pernelle (von der, als Zerrbild einer Frömmlerin, vieles gestrichen werden mußte) wird wieder im ursprünglichen Sinn aufgewertet.
– auch die revolutionäre Vergangenheit Orgons wird nicht mehr unter den Tisch gekehrt.
– dafür fällt das Motiv der Zwangsheirat von Marianne weg (nicht aber das Motiv, daß Orgon seine Kinder quasi an Tartuffe verkauft!).

Mehr soll hier nicht verraten werden – lassen Sie sich überraschen!